In der Traumabiomechanik kommen Computersimulationen mit Finite-Elemente (FE) Modellen als Surrogate für den menschlichen Körper zum Einsatz, um Kinematik und mechanisches Versagen menschlichen Gewebes bei Verkehrsunfallgeschehen abbilden und Verletzungsvorhersagen treffen zu können [5]. Zur Verbesserung der Fahrzeugsicherheit finden zunehmend aktive Menschmodelle, bei denen der Muskelzug mithilfe von Controllern abgebildet wird, in Szenarien Anwendung, in denen die Muskelaktivität eine Rolle für das Verletzungsgeschehen spielt, d.h. unmittelbar vor einem Unfall (pre-Crash) [315] und bei Kollisiongeschehen mit geringem Schweregrad [58]. Die Bewertung der Vorhersagegenauigkeit eines Modells anhand eines experimentell ermittelten Verhaltens im Realgeschehen (Validierung) ist unverzichtbar, um Vertrauen in Simulationsergebnisse zu gewinnen [8].
Im Zuge der Aufbereitung von Schlittenversuchen im EU-Projekt SENIORS, bei denen Freiwillige kontrolliert beschleunigt und verzögert wurden, wurden konkrete Probleme identifiziert, die die Nutzung der Daten als Validierungsgrundlage einschränken. Zum einen waren die für die Normalisierung von elektromyographischen (EMG) Daten erhobenen Maximalkraftwerte nicht verlässlich, zum anderen liefen die Versuche nicht passiv, d.h. ohne Beeinflussung der Muskelmechanik, sondern mit einer relativ hohen intra- bzw. interindividuellen Variabilität der Muskelaktivierung ab [109].
Basierend auf der Entwicklung eines geeigneten experimentellen Studiendesigns, das die Erfassung von Validierungsdaten für FE Modelle und rückwirkende Anwendbarkeit der SENIORS Daten zum Ziel hatte, wurden im Rahmen dieser Dissertation reaktive [149] und passive [121], d.h. möglichst entspannte, Pendeltestversuche des Kniegelenks nach Wartenberg mit neun männlichen Probanden durchgeführt [119]. Der Versuchsbeginn wurde teilweise mittels eines Countdowns angekündigt. Neben der detaillierten Analyse der Muskelaktivität ausgesuchter Muskeln der unteren Extremität in Ruhe, vor und während des Pendeltests sowie der zweidimensionalen Kinematik des Unterschenkels jedes einzelnen Versuchsdurchgangs wurde ein mehrfaktorieller Ansatz zur nachträglichen Identifikation von annähernd passiven Versuchsdurchgängen auf Basis elektromyographischer Grenzwerte verfolgt.
Im Rahmen der umfassenden Einzelfallanalyse konnten erstmals nachweislich passive Versuchsdurchgänge mit Freiwilligen identifiziert werden, deren Kinematik sich von der nicht passiver Versuche abhebt. Innerhalb der insgesamt 135 erfolgten Versuchsdurchgänge wurden hierbei neun Versuche (6,7 %) von drei Probanden detektiert, in denen weder im EMG-Signal des Beinbeuger-, noch in dem des Beinstreckermuskels ein Onset, ein globales Maximum oder ein Offset auftraten. Sowohl Mittelwert als auch Standar abweichung der Unterschenkelpendeldauer bis 65◦ Kniewinkel der neun identifizierten Versuche wichen mit 382±6 ms deutlich von der der 135 Versuche mit 432±126 ms ab.
Die Arbeit liefert somit Entwicklern von FE Menschmodellen einzigartige neue experimentelle Validierungsgrundlagen auf regionaler Ebene. Mit einem FE Modell, welches zuvor in seinen passiven Steifigkeitsparametern des Weichgewebes gegen die passiven Freiwilligenversuche validiert wurde, könnten mithilfe der Muskelaktiverungsschemata, des Grundansteuerungsniveaus und der Höhe der Muskelaktivität der Versuche mit reaktiver Testkondition Muskelcontroller isoliert verbessert und gegen die resultierende Unterschenkelkinematik validiert werden. Die klare Separation des muskulären Beitrags von dem der numerischen Gelenks- und Weichgewebssteifigkeit könnte somit erstmals simulativ nachvollzogen werden.
Neben der Bereitstellung von Validierungsdaten konnten Vorgehensempfehlungen für künftige, gleichgelagerte Experimente auf Basis der Ergebnisse dieser Dissertation formuliert werden. Im Vordergrund stehen hierbei eine effizientere Versuchsgestaltung und -auswertung sowie ein alternativer Normalisierungsparameter für EMG-Daten.
Die Gegenüberstellung von Versuchsergebnissen mit und ohne Countdown legt nahe, dass sich die Muskelentspannung in regionalen Experimenten punktuell mittels zeitlicher Ankündigung des Versuchsstarts steigern lässt. Das Vorhandensein eines Countdowns verzögerte den Onsetzeitpunkt des Beinstreckermuskels im Median um 26 ms (M. rectus femoris) bzw. 24 ms (M. vastus lateralis). Die EMG-Maxima der Versuche mit Ansage eines Countdowns waren im Median 6,4 % (M. rectus femoris) bzw. 3,4 % (M. vastus lateralis) Maximalkraft niedriger als die ohne Ankündigung des Versuchsbeginns. Die Pendelzeit des Unterschenkels bei 65◦ Kniewinkel verkürzte sich mit 384 ms bei vorangegangenem Countdown im Median gegenüber den Versuchen ohne Countdown mit 437 ms. Die Unterstützung des zeitlichen Bewusstseins über den Versuchsbeginn durch die Versuchsleitung kann somit a priori für die Reduktion der Variabilität von Freiwilligenversuchen eingesetzt werden und sollte demzufolge in künftigen, ähnlich gestalteten Experimenten Anwendung finden.
Bei der Analyse des EMG-Ruhemuskeltonus vor und nach der Pendeltestreihe erwies sich dieser als ein reproduzierbares Maß der Untergrenze der EMG-Aktivität. Im Median lag diese vor Beginn der Versuchsreihe bei 0,44 % bzw. 0,43 % bzw. 0,36 % des EMG-Signals bei maximaler Muskelanspannung des M. rectus femoris bzw. M. vastus lateralis bzw. M. biceps femoris. Die zur Maximalkraft ergänzende Normalisierung der EMG-Daten zum EMG-Ruhemuskeltonus lieferte nicht nur einen wertvollen Erkenntnisgewinn bei der Interpretation vorliegender, niedriger Muskelaktivität; der EMG Ruhemuskeltonus könnte auch rückwirkend die im Rahmen des EU-Projekts SENIORS ermittelten Validierungsdaten der numerischen Verwendbarkeit zuführen.
Auf Basis der umfangreichen Kenntnis des experimentellen Datenmaterials konnten erstmals elektromyographische Grenzwerte abgeleitet werden, die in künftigen vergleichbaren Studien als erste zeitsparende Annäherung für die nachträgliche Identifikation nahezu passiver Versuchsdurchgänge verstanden werden können. Im Fall der Höhe der EMG-Reaktion lagen die Grenzwerte bei maximal 3 % der isometrischen Maximalkraft bzw. 800 % des EMG-Ruhemuskeltonus. Die Grenzwertmethodik konnte jedoch nicht als gleichwertiger Ersatz für eine aufwändige Einzelfallanalyse der EMG-Signale standhalten.
Lediglich eine Erweiterung der Validierungsexperimente mit narkotisierten und muskelrelaxierten Patienten könnte abschließend klären, ob absolut passives Verhalten im Wachzustand messbar ist. Die regionale Validierung von FE Modellen ist letztlich als Baustein zu verstehen, der dazu beitragen soll, den gesamten Körper biofidel abzubilden. Nur so kann das volle Potenzial von FE Menschmodellen im Sinne der Verletzungsprävention ausgeschöpft werden.
In trauma biomechanics research, computational simulations with Finite-Element (FE) models representing the human body are carried out to represent kinematics and predict mechanical failure of human tissue in traffic accidents [5]. To improve vehicle safety, active human body models, where muscle tension is represented by controllers, are being applied in scenarios where muscle activity plays a role in injury mechanisms, i.e. before entering an accident (pre-crash) [315] and in low-severity collisions [58]. The evaluation of a model’s prediction accuracy by comparison with experimentally determined behaviour in reality (validation) is essential in gaining trust in simulation results [8].
In the course of data analysis of experimental sled tests run within the European Union financed project SENIORS, where volunteers were exposed to controlled deceleration, certain issues limiting the applicability of the data for validation purposes were identified. First, measured maximum values needed for normalization of electromyography (EMG) data were not reliable. Second, the deceleration tests had not been performed passively, i.e. without muscle contribution; EMG data showed relatively high withinand between-subject variability in terms of muscle activity [109].
Based on the development of a suitable experimental study design allowing for both the acquisition of validation data for FE models and the retrospective applicability of SENIORS data, in the present thesis reactive [149] and passive [121], i.e. relaxed, Wartenberg leg drop pendulum tests were conducted with nine volunteers [119]. The initiation of a test run was announced partially with a verbal countdown. In addition to the detailed analysis of lower extremity muscle activity at rest, before and during leg drop and two-dimensional kinematics of the lower leg, a multifactorial approach for ex post identification of passive trials based on EMG threshold values was taken. Based on comprehensive individual case analyses, verifiably passive trials with volunteers whose kinematics stand out from non-passive trials were identified for the first time. In the present study, nine out of 135 leg drop trials (6.7 %) from three volunteers were carried out without an onset, global maximum and offset in the EMG-signal of leg extension and flexion muscles. With 382 ± 6 ms, both mean and standard deviation of lower leg pendulum time at 65◦ knee angle of the nine identified test runs diverged considerably from all 135 trials with 432 ± 126 ms.
Thus, the present doctoral thesis offers FE human body model developers unique new experimental validation data basis on a regional body level. After validation of FE model soft tissue’s passive stiffness parameters against the passive volunteer data, using muscle activation schemes, basic muscle activation level and level of muscle activity during the reactive leg drop tests current FE controllers could be improved separately, with subsequent validation against reactive lower leg kinematics. Hence, the distinct separation of muscle mechanics’ contribution to kinematics from the numerical joint and soft tissue stiffness’ could be retraced virtually for the first time.
In addition to the allocation of validation data, recommendations for the conduct of similar future experiments were derived from the results of the present study, with an emphasis on a more efficient experimental design and data evaluation as well as an alternative way to normalize EMG data.
The comparison of results with and without a verbal countdown suggests muscle relaxation can be enhanced in regional experiments by providing volunteers with a temporal cue. The presence of a countdown delayed the leg extensor muscles’ EMG median onset time by 26 ms (M. rectus femoris) and 24 ms (M. vastus lateralis), respectively. Median EMG maximum reactions of trials with countdown were lower by 6.4 % maximum voluntary contraction (MVC) (M. rectus femoris) and 3.4 % MVC (M. vastus lateralis), respectively, than trials without countdown prior to test start. Median pendulum time at 65◦ knee angle with 384 ms with countdown were shorter compared to trials without temporal cue with 437 ms. In summary, by supporting volunteers’ temporal awareness of the test start investigators proactively may be able to reduce response magnitude and variability. Therefore, this intervention should be applied in future similar experiments.
Analysing EMG muscle tone at rest before and after the test series the measure proved a reproducible dimension to serve as lower threshold of EMG activity. Before testing, the median EMG muscle tone values amounted to 0.44 % MVC for the M. rectus femoris, 0.43 % MVC for the M. vastus lateralis, and 0.36 % MVC in case of the M. biceps femoris. Complementing EMG resting tone normalization to MVC normalization not only provided a valuable gain of insights while interpreting EMG data at a low activity level. Moreover, the EMG resting muscle tone could serve as an alternative measure to make SENIORS validation data retrospectively suitable for numerical use.
Based on the thorough examination of the experimental data, several EMG threshold values have been identified that may serve as a first rapid approach to narrowing down future data sets to nearly passive trials. For instance, in the case of muscle reaction magnitude, thresholds of almost passive behaviour were at a maximum EMG activity of 3 % MVC or 800 % of EMG resting muscle tone. However, the threshold approach could not stand up to the results extracted from an elaborate individual case analysis.
Merely by extending the present validation study with patients who are clinically induced anaesthetized and muscle relaxed, can it be terminally clarified whether truly passive behaviour is measurable in the awake state. Ultimately, the validation of an FE model at a regional level needs to be seen as a fundamental contribution to the bigger picture of creating a biofidelic model of the human body as a whole, and thus, being able to take full advantage of an FE human body model’s potential to prevent injuries.